Sven „Def“ Winkler spricht über sein Kletterprojekt (Foto: Mina Gerngross / www.gerglo.com)

Es liegt was in der Luft rund um die musa. Auf einmal stehen große Übersee-Con­tainer herum, in denen junge Menschen werkeln, eine helle Sandfläche glänzt im Umgebungsgrün und einmal im Monat werden in der musa Projekte vorangetrieben. Das HW2 entsteht.

Das HW2 kündigt sich an. Gegenwärtig ist der Schritt von der Idee zum Start eines konkreten Projektes längst getan, erste Ergebnisse werden sichtbar. Aber es ist eben noch vieles offen. Wird das HW2 am Ende das, was es sein könnte? Ein erfolgreiches Kreativquartie in Göttingen, das seine Wirkkraft spürbar entfaltet. Diese Zielsetzung steht zumindest. Am Hagenweg soll auf dem insgesamt ca. 100.000 m² großen Gelände der ehemaligen Heeresbrotfabrik, das sich bis heute zu einem großen Teil im Besitz der Bundesrepublik Deutschland befindet und von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) verwaltet wird, ein Kreativquartier entstehen. Dieses soll Freiräume bieten, in denen kreative Unternehmer, Vereine und Projekte ihre Ideen verwirklichen können. Dabei geht es um Projekte aus Wirtschaft, Handwerk, Kultur, Sport, Freizeit und dem Sozialbereich. Gelingt es, würde nicht nur die Göttinger Weststadt mit ihrem hohen Migrationsanteil in unterschiedlichster Weise profitieren, auch die Göttinger Kreativwirtschaft wäre um eine wichtige Facette erweitert. Nicht zuletzt könnten Göttingen und die Region mit einem zeitgemäßen Standortfaktor punkten, den es hier so bisher noch nicht gibt.

Freiraum sehen >>> Bis dahin ist es noch ein langer Weg. An dessen Anfang standen zwei erfolgreiche Workshops im Frühling und Sommer 2019, in denen erstmals eine ganze Reihe von Ideen, Visionen und Anregungen zusammenliefen, die schon eine ganze Weile rund um die musa zu hören gewesen waren. Hinter dem größten soziokulturellen Zentrum der Region, das seit 2019 mit einer neu eingerichteten „Kreativetage“ auch über ein kreativwirtschaftliches Zentrum verfügt, befinden sich nämlich mehrere zehntausend Quadratmeter Fläche, auf denen sich heute noch immer große Lagerhallen und Silos – Anlagen der ehemaligen Heeresbrotfabrik –, Eisenbahnschienen, Grünflächen und prinzipiell jede Menge „Freiraum“ befinden. Die vorhandenen Gebäude sind dabei in erster Line an handwerksnahe Unternehmen vermietet, hier gibt es aber auch die Zentralen von Monkey Burger und der Stiftung Hilfswerk Deutscher Zahnärzte sowie natürlich das Haus der Kulturen, mit seinen soziokulturellen Angeboten für die Integration und Gleichberechtigung von Migrantinnen und Migranten. Durch seine vergleichsweise abgeschiedene Lage und seinen Zustand versprüht das Areal einen alternativen, urbanen Charme, der bei jedem Kreativen, der etwas auf sich hält, den Impuls „da müsste man doch mal was machen“ auslöst.

Startschuss >>> Das erkannten dabei nicht nur regionale Querdenker, auch auf Bundesebene, wo die Potenziale kreativwirtschaftlicher Aktivitäten längst zum Instrumentarium von Stadt- und Wirtschaftsentwicklungspolitik gehören, entschied man sich, das Areal als eines von ganz wenigen im Jahr 2019 in den Fokus zu rücken. Denn auch beim Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes bescheinigte man dem Ort ein Potenzial, das „durch eine entsprechende Quartierentwicklung einen neuen Begegnungs- und Erlebnisort für die Göttingerinnen und Göttinger, ein Innovationslabor für ansässige Handwerksbetriebe und Unternehmerinnen und Unternehmer und ein Highlight für Göttingen entstehen lassen könnte, das seine Strahlkraft weit über die Stadt hinaus in die Region oder sogar ganz Deutschland entfaltet.“
Und deshalb erprobte das Kompetenzzentrum in Kooperation mit der musa auf den beiden Workshops, wie erfolgreich man den nächsten Schritt hin zur Konkretisierung einer Entwicklung gehen könnte. Expertinnen und Experten der Kultur- und Kreativwirtschaft aus ganz Deutschland wurden eingeladen, um zusammen mit, der städtischen Verwaltung, Unternehmerinnen und Unternehmern aus Göttingen sowie Vertretern des Landes Niedersachsens zuerst Visionen und dann im zweiten Schritt realisierbare Pläne zu entwickeln. Diese sollten dabei klar auf die Frage bezogen sein, wie sich aus ihnen ein Mehrwert für Göttingen – als Lebensraum ebenso wie als Wirtschaftsstandort – entwickeln ließe.
Mehr als 16 spannende Ideen standen am Ende des zweiten Workshops als Ergebnis auf einer Aufstelltafel, als die bundesweit angereisten Akteure wieder zum Bahnhof zurückstrebten. Jetzt war es an den Göttingerinnen und Göttingern zu zeigen, wie es weitergehen sollte; denn allen Projekten dieser Art ist gemeinsam, dass sie nur dann mit Leben gefüllt werden, wenn Menschen dahinterstehen, die bereit sind, sich zu engagieren und Zeit, Geld und Arbeitskraft zu investieren, um ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. Öffentliche Unterstützung ist in dieser Phase schön und hilfreich, aber entscheidend sind Macher, die tatsächlich Sachen machen.

Bei einer abwechselnd geführten Begehung des Areals ließen sich die Teilnehmer des 1. Workshops mit Ambient-Sound auf den Kopfhörern zu Visionen inspirieren. (Foto: Mina Gerngross / www.gerglo.com)

Wir machen mal >>> Und genau dies scheint zu gelingen. Schon kurz nach den Workshops begannen diejenigen, die das inzwischen HW2 – ganz schlicht für die Adresse Hagenweg 2 stehend – getaufte Projekt vorantreiben wollten, sich immer am ersten Freitag eines Monats im Coworking-Raum der musa zu treffen, zu vernetzen, ihre Projekte vorzustellen, über Fortschritte zu berichten und gemeinsam zu überlegen, wie man die bestehenden Herausforderungen angehen könnte. Herausforderungen gibt es noch genug. Allen voran steht noch eine Entscheidung darüber aus, inwieweit die BImA das von ihr verwaltete Areal für eine Weiterentwicklung zur Verfügung stellen wird. Zwar arbeiten Göttinger Bundestagsabgeordnete ebenso wie die Stadtverwaltung mit Nachdruck daran, hier ein positives Ergebnis zu erzielen, aber zum Redaktionsschluss lag noch keine Entscheidung vor.

Auch gilt es, noch viele infrastrukturelle Fragen zu klären, Strom- und Wasseranschlüsse sind vonnöten, und die Wege auf dem Areal sind in keinem guten Zustand. Doch das hält die Akteure gegenwärtig nur dann auf, wenn es gar nicht anders geht, denn inzwischen wurde vieles erreicht. So konnten zum Beispiel alte Hochsee-Container teils mit Spendenmitteln gekauft und zum HW2 transportiert werden. Sie werden jetzt für eine Nutzung umgebaut. Nach einer Reihe von Telefonaten seitens der musa-Geschäftsführerin Tine Tiedemann – deren Engagement und Vernetzungsarbeit sie zu einer der wichtigsten Akteurinnen des HW2 macht – wurde auf der zur Leine angrenzenden Fläche ein Beachvolleyballfeld Realität, sodass die Besucher der dort ebenfalls geplanten Strandbar sich schon jetzt auf ein wenig Unterhaltung freuen dürfen. Doch hier wird erst in zarten Ansätzen sichtbar, was noch 2020 möglich erscheint.

Das wird was! >>> Denn wer freitagsmorgens in der musa dabei ist, der spürt, dass hier echte Aufbruchstimmung in der Luft liegt. Da ist der Peloton e. V., der in seinen zum Veranstaltungsort umgebauten Containern Freiraum für Kultur, Macher und Projekte aller Art anbieten wird. Da ist der Tischler und Sozialarbeiter Freddi Anders, der in einem anderen Container die Einrichtung einer sozialen Werkstatt plant, in der Jugendliche und Langzeitarbeitslose handwerkliche Fähigkeiten erlernen, Berufsqualifizierung erfahren und überall dort, wo etwas gebaut werden muss, in die Verwirklichung anderer Projekte eingebunden werden können. Die Verantwortlichen eines anderen Projektes realisieren in Zusammenarbeit mit der Uslarer Bergbräu-Brauerei ein Soli-Bier für Göttingen, als gemeinwohlorientiertes Unternehmen, dessen Überschüsse als Spenden in lokale soziale Projekte fließen sollen. Eine Näh-Werkstatt wird entstehen, in der Migrantinnen aus der Weststadt ihre handwerklichen Fähigkeiten unternehmerisch nutzen können sollen. Marco Bühl, seines Zeichens Fotograf, wird einen Calisthenics-Park realisieren, der ein spannendes Freizeitangebot für die Jugendlichen der Weststadt und die regionalen Fans der amerikanischen Trendsportart bieten wird. Eine DJ-Schule ist in Planung. Der Künstler und Tischler Dirk Freitag und die Architektin Pia Vallilengua Meyer wollen eine „Tiny-House-Werkstatt“ einrichten, in der sie zusammen mit Interessierten vor Ort transportable Mini-Häuser bauen. Die Van Gang wird gemeinsam an VW-Bussen schrauben, eine andere Gruppe arbeitet in Zusammenarbeit mit dem Sportbereich der Universität Göttingen daran, den alten Speicher auf dem BImA-Gelände außen und vielleicht sogar innen mit Kletterrouten auszustatten. Ein BMX-Parcours kündigt sich ebenso an, wie Projekte die sich mit Urban Gardening auseinandersetzen sollen. Aus der kulturell reichen Weststadt gibt es Interesse, international inspirierte Food-Angebote ins Leben zu rufen, und für die breite Göttinger Spiele-Szene steht die Idee eines Co-Gaming-Spaces im Raum, wo sich Fans von Tabletop- und Rollenspielen, Trading Card und Brettspielen ihrem Hobby, und wenn möglich, unternehmerischen Aktivitäten widmen können. Passend dazu steigt auch die Live Action Roleplaying Szene in das HW2 ein. Beinahe visionär – und tatsächlich auch auf eine Vision der ersten Workshops zurückgehend – ist last but not least die Idee der Architekten Jan Albrecht und Pia Vallilengua Meyer, entlang des Leineverlaufs bis nach Göttingen hinein ein System von Stegen und Brücken zu realisieren, das ganz neue urbane Räume und Verbindungen schaffen soll. Zukunftsmusik? Vielleicht, aber denkbar auf jeden Fall.

Ein Kreativquartier für Göttingen? >>> Ab 100.000 Einwohnern ist eine Stadt eine Großstadt. Davon gibt es in Deutschland 82. In praktisch jeder dieser Städte wird mittlerweile ein Quartier erschlossen, dessen Aufgabe darin gesehen wird, Stadterneuerung und Strukturwandel positiv mitzugestalten und alternative Räume für kreatives Unternehmertum zu bieten. Häufig ähneln die Projekte dort, trotz einer hohen Vielseitigkeit, einander, denn in wesentlichen Punkten gibt es Parallelen: Es geht um die Suche nach gesellschaftlicher Relevanz, ein nachhaltiges Wirtschaften und Leben, und man ist kulturaffin und technologieversiert. So bieten Kreativquartiere unabhängig von ihren Organisationsformen einen wichtigen Raum für Andersdenken und -handeln. Welchen Weg das HW2 in Zukunft gehen wird, von welcher Seite es weiter oder neue Unterstützung erfährt, das wird sich zeigen müssen. Dass Göttingen als junge Stadt von einem ausgewiesenen Kreativquartier in vielerlei Hinsicht profitieren könnte, liegt jedoch auf der Hand. Dazu braucht es kreative Gründer und Aktivisten, die aktiv gestalten, loslegen und auch in Vorleistung gehen – aber eben genauso eine Unterstützung von öffentlicher Seite, die effektiv Wege ebnet und Möglichkeiten schaffen hilft. Denn nur so können die Macher auch was machen.

Der Peloton e. V. baut Freiraum für Kultur und Kunst (Foto: Marlin Helene)

Beachvolleyballfeld und Container neben der musa (Foto: Marlin Helene)